Freitag, 29. Juni 2007

Ein mögliches Beispiel für eine literarische Charakteristik Barblins

In Max Frischs Schauspiel „Andorra“, das im Jahre 1961 veröffentlicht worden ist und dessen Handlung im fiktiven Modellstaat Andorra abläuft, spielt neben der Hauptfigur Andri das Mädchen Barblin eine wichtige Rolle. Sie wirkt nicht nur maßgebend im Stück mit, sondern ist darüber hinaus noch die einzige Figur neben Andri und dem Lehrer Can, die persönliche Charakterzüge aufweist. Eine näherere Beschäftigung mit ihrer Person könnte also aufschlussreich für das Gesamtverständnis des Stückes sein.
Von Anfang an zeigt sich Barblin als wohlerzogenes, ordentliches Mädchen. So verhält sie sich dem Pater gegenüber stets höflich und respektvoll, sie siezt ihn und nennt ihn „Hochwürden“ (S. 12). Sie ist freundlich, geschickt – sie arbeitet „wie ein erwachsenes Mädchen“ (S. 12) – und, wenn man dem Soldaten Glauben schenken darf, dem „ihre Waden und ihr Haar“ (S. 9) gefallen, von ansprechendem Äußeren. Kurz und gut: Fast das Idealbild einer Andorranerin.
Das Einzige, was diesem Musterbild nach andorranischer Ansicht nicht entspricht, ist die Tatsache, dass Barblin den Juden Andri liebt. Dementsprechend verhält sie sich dem Soldaten gegenüber zwar zunächst höflich, weist seine Annäherungsversuche aber unmissverständlich und bestimmt zurück („Ich bin velobt“, S. 9). Dass sie nicht völlig erwachsen, sondern eben doch noch ein junges, unbedarftes und unsicheres Mädchen ist, zeigen ihre kindlichen Verhaltensweisen, die sie von Zeit zu Zeit an den Tag legt („Barblin streckt ihm die Zunge heraus“, S. 10), wie auch die Tatsache, dass sie sich anfänglich von der plumpen Frechheit des Soldaten irritieren lässt („Wieso soll er Plattfüße haben?“, S.9).
Um ihren Geliebten Andri ist sie wegen der Vorurteile, unter denen dieser zu leiden hat, sehr besorgt, da im Falle einer Invasion der Schwarzen das Schlimmste für ihn zu befürchten wäre. Die Gedanken daran gehen ihr nicht aus dem Kopf, so fragt sie beispielsweise mehrmals beim Pater nach („Und wenn sie trotzdem kommen, Hochwürden?“; S. 13), da dieser ihrer Meinung nach ja über die Geschicke des Landes Bescheid wissen müsse. Andris Identitätsprobleme jedoch nimmt auch sie nicht ernst: Mit Zärtlichkeiten („Und jetzt will ich einen Kuss“, S. 27) versucht sie ihn von seinen Grübeleien abzulenken, da sie als junges, unbelastetes Mädchen den inneren Kampf ihres Geliebten nicht begreifen kann. Es zeigt sich auch, dass sogar sie, die ihn liebt, wie alle Andorraner nicht frei von Vorurteilen ist, als sie meint, Andri solle „fröhlich und stolz“ sein, weil sie ihn liebe (S. 27), obwohl er Jude sei.
Die Liebe zu Andri gibt Barblin auch die Kraft, sich gegen ihren Vater aufzulehnen. Als dieser sich weigert, ihrer Hochzeit zuzustimmen, begehrt sie auf und droht gar damit, sich umzubringen oder „zu den Soldaten“ zu gehen (S. 44). So verstößt sie zum erstenmal gegen die Vorstellung von einer zurückhaltenden und angepassten Andorranerin. Dennoch bleibt sie ein schwaches Mädchen, das sich nur ungern gegen die Autorität des Vaters und des Pfarrers auflehnt und das sich auch nicht gegen die Brutalität des Soldaten zur Wehr setzen kann, als der sie schließlich vergewaltigt (S. 49ff.)
Eine entscheidende Wende tritt ein, als Barblin gezwungen wird, Andri plötzlich als Bruder zu akzeptieren (S. 92). Nun kann sie die Annäherungen Andris, der in ihr immer noch die Geliebte sehen will, nicht mehr hinnehmen („Jetzt lass mich!“, S. 94). Andri, der seinerseits bereit wäre, für sie sämtliche gesellschaftlichen Regeln außer Acht zu lassen, weil er ohnehin ein Außenseiter ist (S. 94/95), sieht den Grund für diese Ablehung in seinem vermeintlichen Judentum und gibt sich auf, da nun auch der letzte Mensch, der an ihn geglaubt hat, ihn von sich stößt. Deshalb liefert er sich kampflos den Schwarzen aus, als diese ihn holen kommen (S. 94). Im Gegensatz dazu ist Barblin bereit und entschlossen ihren Bruder zu schützen und gegen die Eindringlinge zu verteidigen („Rührt meinen Bruder nicht an!“, S. 95). Sie begegnet Andri, der sich mit seinem Schicksal abgefunden hat („Warum haben wir uns nicht vergiftet…“, s. 94), mit Verständnislosigkeit („Du bist irr!“, S. 94) und unternimmt schließlich mit dem Mut der Verzweiflung einen letzten Versuch, ihren Bruder zu retten: Bei der Judenschau ruft sie die Andorraner zum Widerstand auf und wirft als Erste ihr schwarzes Tuch von sich („Sag’s ihm: Kein Andorraner geht über den Platz!“, S. 106). Doch die Andorraner sind zu ängstlich um aufzubegehren – oder haben kein Vertrauen in die als „Judenhure“ (S. 114) verdächtige Barblin – so dass ihr Rettungsversuch scheitert: Andri wird ermordet und Barblin schließlich „weggeschleift“ (S. 107). Als sie in der letzten Szene wieder auftritt, ist sie dem Wahnsinn verfallen („Die ist übergeschnappt“, S. 115). Wie ein wandelndes Mahnmal für die Andorraner weißelt sie unbeirrt weiter die Hauswände und wartet auf die Rückehr Andris und ihres Vaters, der sich nach Andris Tod aus Verzweiflung und Reue „im Schulzimmer erhängt“ hat (S. 115).Barblin ist mit Sicherheit eine der wichtigsten Figuren im Stück – nicht umsonst wird sie im Personenverzeichnis mit Namen genannt. Als Schwester und zugleich Geliebte Andris ist sie für den Fortgang der Handlung von eminenter Bedeutung. Wie es mit ihr weitergeht, bleibt im Stück offen. Möglicherweise begeht auch sie Selbstmord, weil sie den Tod von Vater und Bruder sowie das traumatische Erlebnis von Vergewaltigung und gesellschaftlicher Ächtung nicht verkraftet. Barblin ist somit ebenso wie Andri ein Opfer von Vorurteil und Gewalt.

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